Der Brief aus Rom (1884)

1884, wenige Tage vor seiner Rückkehr nach Turin, hatte Don Bosco in Rom zwei Träume, die er in einem Brief an seine Lieben in Valdocco niederschrieb. Dieser Brief ist unter dem Namen „Der Brief aus Rom“ bekannt und gehört zu den am meisten erforschten und kommentierten Texten. Wir bieten hier den vollständigen Originaltext zur Lektüre an.

Meine lieben Söhne in Christus,

            Wo immer ich auch bin, ich denke immer an Euch, und ich habe nur den einen Wunsch, Euch zeitlich und ewig glücklich zu sehen. Dieser Gedanke, dieser Wunsch drängt mich, Euch diesen Brief zu schreiben. Die Trennung von Euch fällt mir sehr schwer, meine Lieben, und weil ich Euch nicht sehen oder hören kann, vermisse ich Euch ganz arg, glaubt mir. Schon vor einer Woche wollte ich Euch diesen Brief schreiben, aber meine viele Arbeit hier hat mich daran gehindert. Es sind zwar nur noch wenige Tage bis zu meiner Rückkehr, aber mein Wiedersehen mit Euch will ich in diesen Zeilen schon einmal vorwegnehmen, da ich es persönlich noch nicht kann. Was ich Euch schreibe, sind die Worte eines Menschen, der Euch in Christus sehr lieb hat und die Pflicht fühlt, mit der Offenheit eines Vaters zu Euch zu reden. Das erlaubt Ihr mir doch, und Ihr werdet mir Eure Aufmerksamkeit schenken und das, was ich Euch sagen werde, auch in die Tat umsetzen, nicht wahr?    
            Ich habe Euch schon gesagt, dass ich immer an Euch denke. Nun, an einem der letzten Abende hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen, und während ich mich zum Schlafengehen fertig machte, habe ich die Gebete gesprochen, die ich von meiner lieben Mutter gelernt hatte.
            Auf einmal – ich weiß nicht recht, ob ich schon eingeschlafen oder irgendwie geistesabwesend war – da schien es mir, als stünden zwei alte Ehemalige des Oratoriums vor mir.
            Einer von ihnen trat näher, begrüßte mich herzlich und sagte:
            „Don Bosco, kennen Sie mich noch?“
            „Ja, ich kenne dich“, gab ich zur Antwort.
            „Sie erinnern sich noch an mich?“
            „An dich und an alle die anderen. Du bist Valfré und warst vor 1870 im Oratorium.“         „Sagen Sie“, fuhr er fort, „wollen Sie die Jungen sehen, die zu meiner Zeit im Oratorium waren?“
             „Ja“, sagte ich, „zeige sie mir, ich würde mich sehr darüber freuen.“
            Da zeigte mir Valfré alle Jungen, mit dem Aussehen, der Gestalt und in dem Lebensalter von damals. Mir war, als wäre ich im alten Oratorium, zur Zeit der Erholung; da war Leben, voller Bewegung und Fröhlichkeit. Die einen liefen, andere übten Springen, und wieder andere waren begeistert bei anderen Spielen. Hier spielte man Bockspringen, dort Bahrlauf und Wurfball. An einer Stelle war eine Gruppe Jungen beisammen und lauschte gespannt einem Priester, der eine Geschichte erzählte. An einer anderen Stelle spielte ein Kleriker mit den Jungen den „fliegenden Esel“ und die „Handwerker“. Überall wurde gelacht und gesungen, und überall sah man Kleriker und Priester, umgeben von fröhlichen, lachenden Jungen. Man spürte, dass zwischen diesen und ihren Erziehern große Herzlichkeit und viel Vertrauen herrschte. Ich war ganz begeistert von dem Schauspiel, und Valfré sagte zu mir:
            „Sehen Sie, die familiäre Herzlichkeit schafft Liebe, und die Liebe schafft Vertrauen. Das öffnet die Herzen, und die Jungen können ohne Angst über alles mit ihren Lehrern, Erziehern und Vorgesetzten reden. Sie sind ehrlich, in der Beichte und außerhalb, und sie richten sich gern nach dem, von dem sie sicher sind, dass er sie liebt.“
            In diesem Augenblick trat der andere alte Ehemalige zu mir – es war Josef Buzzetti -, er hatte einen schon ganz weißen Bart :
            „Don Bosco“ sagte er, „wollen Sie auch die Jungen sehen, die jetzt im Oratorium sind?“
            „Ja, gern“, sagte ich, „es ist nämlich schon einen Monat her, dass ich sie nicht mehr gesehen habe.“
            Da zeigte er sie mir. Ich sah das Oratorium, und Euch alle, wie Ihr gerade Freizeit hattet. Aber ich hörte da nichts mehr an frohem Geschrei oder Liedern, und von dem Leben und Treiben wie in der ersten Szene war auch nichts zu sehen.
            Viele Jungen hingen herum und schauten so gelangweilt, so müde, enttäuscht und misstrauisch, dass es mir ans Herz griff. Gewiss, viele tobten herum, hatten ihren Spaß miteinander und waren sorglos und glücklich. Aber eine ganze Reihe lehnten sich trübsinnig und allein an die Säulen, und andere drückten sich auf Treppen und Gängen, auf den Balkonen und zur Gartenseite herum, um nicht mit den Kameraden spielen zu müssen. Wieder andere gingen langsam in Gruppen spazieren, sie unterhielten sich leise für sich und schauten sich dabei immer wieder argwöhnisch um. Manchmal fingen sie auch an zu lachen, aber mit solch einem Gesicht, dass man sicher sein konnte, dass der hl. Aloysius sich in ihrer Gesellschaft geschämt hätte. Aber auch unter denen, die spielten, waren einige so wenig bei der Sache, dass man deutlich merken konnte, dass die Freizeit ihnen keinen richtigen Spass machte.
            „Haben Sie Ihre Jungen gesehen?“ fragte mich der Ehemalige.
            „Ja, ich sehe sie“, sagte ich und seufzte.
            „Wie ganz anders sind sie doch als wir früher“, sagte der Ehemalige.
            „Wirklich, viele haben ja in der Freizeit zu überhaupt nichts Lust!“ „Und daher kommt es auch, dass viele innerlich unberührt bleiben, wenn sie die heiligen Sakramente empfangen, und dass sie bei den Gebeten innerhalb und außerhalb der Kirche so gleichgültig sind. Deshalb sind sie nur ungern in einem Heim, in dem sie der liebe Gott doch so reichlich mit allem versorgt, was sie an Leib und Seele brauchen. Das ist auch der Grund dafür, dass viele ihrer Berufung nicht entsprechen, für die Undankbarkeit ihren Erziehern gegenüber, für die Geheimniskrämerei, für das Meckern und für andere, schlimme Dinge.“
            „Das wird mir klar, ich verstehe“, erwiderte ich. „Aber wie können wir meine jungen Freunde wieder neu begeistern, so dass sie ihren alten Schwung wiederfinden und froh und offen werden?“
            „Durch Liebe!“          
            „Durch Liebe? Aber werden denn meine Jungen nicht genug geliebt? Du weißt doch, wie sehr ich sie liebe. Du weißt, wie viel ich in den mehr als vierzig Jahren getan und durchgestanden habe, und was ich auch heute noch alles ertrage und aushalte, damit sie Nahrung, Heimat und Ausbildung haben, und besonders aus Sorge um ihr ewiges Heil; so viele Mühen, Erniedrigungen, Widerstände und Verfolgungen!  Ich habe alles für sie getan, was ich wusste und konnte, denn ihnen gehört doch mein ganzes Herz.“
            „Ich spreche doch nicht von Ihnen!“
            „Von wem denn sonst? Vielleicht von meinen Vertretern, den Direktoren, den Wirtschaftsleitern, den Lehrern und den Erziehern? Siehst du denn nicht, wie sie sich abplagen und abrackern in der Schule, bei der Arbeit und in der Freizeit? Wie sie ihre besten Jahre geben für die Jungen, die ihnen der liebe Gott anvertraut?“
            „Ich sehe es, ich weiß es. Aber das genügt noch nicht. Das Wichtigste fehlt.“
            „Was fehlt denn noch?“
            „Die Jungen müssen nicht nur geliebt werden, sie müssen diese Liebe selbst auch spüren.“
            „Ja, haben sie denn keine Augen im Kopf, haben sie keinen Verstand? Sehen sie denn nicht, dass man alles nur aus Liebe für sie tut?“
            „Nein! Ich sage es noch einmal: Das ist nicht genug!“.
            „Was will man denn noch mehr?“
            „Wenn man das liebt, was ihnen Freude macht, wenn man auf ihre Neigungen eingeht, dann lernen sie, die Liebe auch in dem zu erkennen, was ihnen nicht so gefällt, wie z. B. Disziplin, Lernen oder auch Selbstüberwindung. Sie lernen so, diese Dinge mit Begeisterung und Liebe zu vollziehen.“
            „Erkläre das mal deutlicher!“
            „Beobachten Sie einfach die Jungen in der Freizeit!“
            Ich schaute hin und sagte dann:
„Was gibt es da Besonderes zu sehen?“
            „Sie sind nun schon so viele Jahre Jugenderzieher und verstehen das nicht? Schauen Sie mal genau hin! Wo sind denn unsere Salesianer?“
            Nun fiel mir auf, dass sehr wenige Priester und Studenten bei den Jungen waren, und noch weniger spielten zusammen mit ihnen. Die Erzieher waren nicht mehr das Herz der Freizeit. Die meisten gingen umher und unterhielten sich untereinander, ohne darauf zu achten, was die Jungen trieben. Andere schauten bloß bei den Spielen zu, ohne wirklich an die Jungen zu denken, und wieder andere beaufsichtigten die Jungen aus so weiter Entfernung, dass sie nicht merken konnten, wo etwas fehlte. Der eine oder andere rief den Jungen wohl etwas zu, aber in drohendem Ton, und auch nur selten. Gewiss, es gab auch Erzieher, die sich an der Unterhaltung einer Gruppe von Jungen beteiligen wollten. Aber ich konnte sehen, dass die dann ihren Erziehern absichtlich aus dem Weg gingen.
            Dann sagte mein Freund:
            „Waren Sie selbst in der guten alten Zeit des Oratoriums nicht immer
mitten unter uns Jungen, besonders in der Freizeit? Erinnern Sie sich noch an diese schönen Jahre? Das waren doch Zeiten wie im Himmel, und ich denke gern daran zurück, weil damals die Liebe unser Leben regelte und wir vor Ihnen keine Geheimnisse hatten.“
            „Das stimmt! Das hat mir damals viel Freude gemacht, und die Jungen drängten sich begeistert um mich, um mit mir zu reden. Sie haben wirklich versucht, auf meine Ratschläge zu hören und sie zu befolgen. Aber jetzt geht das nicht mehr, wegen der dauernden Konferenzen und all dem, was ich zu tun habe, und leider bin ich auch nicht mehr so gesund.“
            „Schon gut; aber wenn Sie selbst nicht mehr können, warum machen es denn Ihre Salesianer nicht nach Ihrem Vorbild so weiter? Warum bestehen Sie nicht darauf, warum fordern Sie nicht, dass sie mit den Jungen so umgehen wie Sie damals?“.
            „Ich sage es ihnen ja und rede mir die Lunge aus dem Leib, aber trotzdem wollen viele die Mühen von damals nicht mehr auf sich nehmen.“
            „Nun, weil sie nicht auf solche Kleinigkeiten achten, ist alle ihre Mühe und Arbeit umsonst. Sie sollen lieben, was der Jugend gefällt, dann werden die Jugendlichen das lieben, was den Erziehern gefällt. So wird auch ihre Arbeit leichter. Die Ursache, warum es jetzt im Oratorium schlechter geworden ist, liegt im Mangel an Vertrauen einiger Jungen zu ihren Erziehern. Früher waren die Herzen offen gegenüber den Erziehern, die Jungen liebten sie und gehorchten ihnen gern. Aber jetzt werden sie als Vorgesetzte gesehen und nicht mehr als Väter, Brüder und Freunde, die Jungen haben mehr Angst vor ihnen, als dass sie ihre Erzieher gern haben. Wenn alle wieder ein Herz und eine Seele werden sollen, dann muss man um Gottes willen dafür sorgen, dass dieses
schlimme Misstrauen aufhört und statt dessen wieder herzliches Vertrauen herrschen kann. Dann werden die jungen Menschen wieder wie Kinder ihrer Mutter gehorchen, und dann wird es auch wieder so zufrieden und froh im Oratorium zugehen wie früher.“
            „Wie kann man das denn erreichen?“
            „Indem die Erzieher und die Jungen herzlich und vertrauensvoll miteinander umgehen, vor allem in der Freizeit. Ohne Herzlichkeit und Vertrauen gibt es keine Liebe, und ohne Liebe gibt es kein Vertrauen. Wer geliebt sein will, muss zeigen, dass er liebt. Jesus Christus hat sich klein gemacht mit den Kleinen und unsere Schwächen auf sich genommen. Er ist wirklich ein Meister im Vertrauen! Der Lehrer, der nur am Lehrerpult steht, ist Lehrer, und nicht mehr. Wenn er aber auch in der Freizeit bei den Jungen ist, wird er deren Bruder. Wenn einer nur von der Kanzel predigt, wird man sagen, er tue nur seine Schuldigkeit. Findet er aber auch während der Erholungszeit das rechte Wort, dann ist es das Wort eines Menschen, der liebt. Welche Veränderungen haben nicht schon ein paar Worte bewirkt, die wie zufällig während einer Unterhaltung in das Herz eines jungen Menschen gefallen sind. Wer sich geliebt weiß, der liebt wieder, und wer geliebt wird, der erreicht alles, besonders bei der Jugend. Dieses Vertrauen fließt wie elektrischer Strom zwischen den Jungen und ihren Erziehern. Die jungen Menschen öffnen sich, erzählen von dem, was sie bekümmert, und sie sprechen dann auch über ihre Fehler. Diese Liebe macht es auch für die Erzieher leichter, Mühen, Sorgen, Undankbarkeit, Unruhe, Fehler und Nachlässigkeiten der Jungen auf sich zu nehmen. Jesus Christus hat das schon geknickte Rohr nicht gebrochen und den glimmenden Docht nicht ausgelöscht. Er ist Euer Vorbild! Dann wird keiner mehr arbeiten, um sich in den Vordergrund zu spielen; niemand wird strafen, bloß weil seine Eigenliebe verletzt worden ist; keiner wird sich vor der Aufsicht drücken, weil er denkt, dass die anderen Erzieher beliebter sind. Niemand wird andere Erzieher schlecht machen, um sich selbst beliebt zu machen – man erntet dadurch bei den Jungen sowieso nur Verachtung und geheuchelte Schmeicheleien. Niemand wird mehr einen der jungen Menschen zu seinem Liebling machen und ihn bevorzugen, und dabei die anderen Jungen vernachlässigen; keiner wird aus Bequemlichkeit seine Aufsichtspflicht vernachlässigen, und keiner wird aus falscher Rücksicht einen Tadel unterlassen, wo getadelt werden muss. Wo die wahre Liebe herrscht, da sucht man zuerst die Ehre Gottes und das Heil der Seelen. Wo aber diese Liebe schwindet, da bleibt es nicht aus, dass die Dinge nicht mehr gut laufen.
Warum soll an die Stelle der Liebe ein kühles Reglement treten? Warum weichen die Vorgesetzten von den Erziehungsgrundsätzen ab, die sie von Don Bosco gelernt haben? Warum wird die alte Methode, Fehlern durch Wachsamkeit und Liebe vorzubeugen, nun nach und nach dadurch ersetzt, dass Gesetzesparagraphen aufgestellt werden? Das ist zwar für die Erzieher einfacher und bequemer, aber wenn man die Einhaltung durch Strafen erzwingt, entsteht daraus nur Hass und Unwillen. Wenn man aber ihre Übertretung ungestraft durchgehen lässt, verlieren die Erzieher die Achtung der Jungen, und es kommt zu gröbsten Unordnungen.
            Alle diese Folgen ergeben sich zwangsläufig, wenn die Familiarität fehlt. Wenn also die glücklichen Zeiten des Oratoriums wiederkommen sollen, dann muss man zur früheren Methode zurückkehren: Der Vorgesetzte soll allen alles sein. Er soll jederzeit bereit sein, jeden Zweifel und jede Klage der Jungen anzuhören. Er soll ganz Auge sein, um wie ein Vater auf ihr Betragen zu achten, er soll ganz Herz sein, um das seelische und leibliche Wohl derer zu fördern, die Gott ihm anvertraut hat. Dann werden die Herzen sich wieder öffnen, und gewisse Heimlichkeiten werden verschwinden. Nur bei unsittlichem Verhalten sollen die Vorgesetzten unerbittlich sein. Hier ist es besser, die Gefahr auf sich zu nehmen, einmal einen Unschuldigen aus dem Heim zu entlassen, als einen Verführer zu behalten. Die Erzieher sollen es als ihre Gewissenspflicht ansehen, den Vorgesetzten über Vorkommnisse unter den Jungen mitzuteilen, die irgendwie eine Beleidigung Gottes darstellen.“
            Hier fragte ich:
            „Wie kann man am besten für diese Herzlichkeit, diese Liebe und dieses Vertrauen sorgen?“ 
            „Indem man sich genau an die Heimordnung hält.“
            „Ist das alles?“ – „Der beste Topf auf dem Tisch ist ein frohes Gesicht.“
 Mein ehemaliger Schüler schloss mit diesen Worten, und ich dachte noch weiter traurig über unser Gespräch nach; da wurde ich immer müder. Als ich kaum mehr gegen die Mattigkeit ankämpfen konnte, schüttelte ich mich und erwachte. Ich stand neben meinem Bett. Ich spürte meine geschwollenen Beine. Sie schmerzten mich so sehr, daß ich nicht mehr aufrecht stehen konnte. Da es schon sehr spät war, legte ich mich hin und beschloss, Euch, meinen lieben Söhnen, diese Zeilen zu schreiben.
            Ich liebe solche Träume nicht, weil sie mich sehr ermüden. Am nächsten Tag fühlte ich mich wie zerschlagen und konnte kaum den Abend erwarten, um schlafen gehen zu können. Aber siehe da, kaum hatte ich mich niedergelegt, da begann der Traum schon wieder. Ich sah den Hof vor mir, die Jungen, die zur Zeit im Oratorium sind, und denselben Ehemaligen. Ich fragte ihn:
            „Was du mir gesagt hast, das werde ich meinen Salesianern mitteilen. Was aber soll ich den Jungen im Oratorium sagen?“
            „Sie sollen erkennen, wie viel Mühen und Sorgen ihre Vorgesetzten, Lehrer und Erzieher aus Liebe auf sich nehmen, denn das tun sie doch einzig und allein, damit es ihnen gut geht. Die Jungen sollen daran denken, dass die Demut die Quelle aller Zufriedenheit ist. Sie sollen lernen, die Fehler anderer zu ertragen, denn auf Erden findet sich nichts Vollkommenes, das gibt es allein im Himmel. Sie sollen das Meckern und Nörgeln lassen, das vergiftet nur die Herzen und die Atmosphäre. Vor allem aber sollen sie sich Mühe geben, immer in der Gnade Gottes zu leben. Wer nämlich mit Gott keinen Frieden hat, der hat auch mit sich selbst und mit anderen keinen Frieden.“
            „Willst Du damit sagen, dass einige meiner Jungen nicht mit Gott in Frieden leben?“
            „Neben anderen Übeln, von denen Sie schon wissen und die ich deshalb nicht weiter erwähnen muss, ist das der Hauptgrund für die schlechte Stimmung im Heim. Das ist doch klar: Argwöhnisch ist nur, wer etwas zu verbergen hat und befürchten muss, dass dies herauskommt, er dafür bestraft wird und in Schande gerät. Wenn einer keinen Frieden mit Gott hat, dann ist er ängstlich, unruhig, widerspenstig, überempfindlich und schlecht gelaunt. Und weil er ohne Liebe ist, glaubt er, seine Erzieher hätten ihn auch nicht lieb.“
            „Ja aber, mein lieber Freund, siehst du denn nicht, wie oft die Jungen im Oratorium zu den heiligen Sakramenten gehen?“
            „Ja schon, sie gehen oft zur Beichte, aber oft fehlen die festen Vorsätze. Die Jungen beichten zwar, aber es sind immer dieselben Fehler, dieselben nächsten Gelegenheiten, dieselben schlechten Gewohnheiten, dieselben Fälle von Ungehorsam und Pflichtvernachlässigung. So geht das monatelang und vielleicht sogar jahrelang weiter, ja, bei einigen sogar bis zur Schulentlassung.
            Solche Beichten haben nur geringen oder gar keinen Wert, und deshalb bringen sie auch keinen Frieden, und wenn ein Junge in diesem Zustand vor Gottes Gericht treten müsste, so wäre das eine sehr ernste Angelegenheit.“
            „Gibt es im Oratorium viele solcher Jungen?“
            „Im Vergleich zu den vielen Jungen im Heim sind es nur wenige. Passen Sie auf, ich werde Sie Ihnen zeigen.“
Ich schaute hin und sah jeden einzelnen dieser Jungen. Bei diesen wenigen aber sah ich Dinge, die mich ganz traurig machten. In diesem Brief will ich nichts weiter zu schreiben, aber nach meiner Rückkehr werde ich jedem sagen, was ihn betrifft. Hier möchte ich nur sagen, dass es an der Zeit ist, zu beten und entschlossene Vorsätze zu fassen, Vorsätze, die nicht nur hingeredet werden, sondern durch Taten zeigen, dass es auch heute noch Jungen unter uns gibt wie damals Comollo,
Dominikus Savio, Besucco und Saccardi.
            Schließlich fragte ich meinen Freund:
            „Möchtest du mir sonst noch etwas sagen?“
            „Ja, erinnern Sie alle, groß und klein, immer wieder daran, dass sie Kinder der Mutter Gottes sind. Sie, die Helferin der Christen, hat sie alle dort im Heim zusammengeführt, um sie vor der Gefahr des Bösen zu bewahren. Sie sollen sich wie Brüder lieben und durch ein gutes Leben Gott ehren und Maria loben, die immer wieder durch ihre Gnade und durch Wunder für das tägliche Brot und für die Mittel zur Ausbildung sorgt. Sie sollen daran denken, dass das Fest der Helferin der Christen bevorsteht, und mit ihrer Hilfe soll die Mauer des Misstrauens fallen, die der Böse
zwischen Jungen und Erziehern aufrichten konnte und die er nun geschickt zum Verderben der Seelen benützt.“
            „Wird es uns also gelingen, diese Mauer einzureißen?“
            „Ganz bestimmt, wenn nur groß und klein aus Liebe zur Gottesmutter bereit sind, etwas Selbstüberwindung auf sich zu nehmen und das, was ich gesagt habe, in die Tat umzusetzen.“
            Während dem schaute ich weiter meinen Jungen zu und beobachtete das traurige Schauspiel derer, die ich auf dem Wege zum ewigen Unheil sah; da fühlte ich solches Herzdrücken, dass ich erwachte. Ich möchte Euch gern noch viele wichtige Dinge erzählen, aber meine Zeit und die Umstände erlauben mir das leider nicht.
            Ich komme zum Schluss. Wisst Ihr, was ich armer, alter Mann, der ich mein ganzes Leben für die Jugend geopfert habe, mir von Euch wünsche? Nur dies eine: Tut auch Ihr Eure Pflicht, und lasst die glücklichen Tage des alten Oratoriums wiederkehren, die Tage der Liebe und des Vertrauens zwischen Jungen und Erziehern, die Tage der gegenseitigen Zuvorkommenheit und Verträglichkeit um der Liebe Christi willen, die Tage einfacher Offenheit und Lauterkeit, die Tage der Liebe und der echten Fröhlichkeit aller! Ich brauche diesen Trost, dass Ihr mir die Hoffnung und das Versprechen schenkt, alles zu tun, was ich mir von Euch zu Eurem Besten wünsche. Ihr wisst noch gar nicht so richtig, wie viel Glück ihr habt, dass Ihr im Oratorium eine Heimat gefunden habt.
Vor Gott bezeuge ich Euch: Wenn ein junger Mensch in ein Heim der Salesianer eintritt, wird er sogleich von der Gottesmutter unter ihren besonderen Schutz genommen. Seien wir ein Herz und eine Seele! Die Liebe derer, die befehlen, und die Liebe derer, die gehorchen müssen, wird unter uns den Geist des heiligen Franz von Sales herrschen lassen. Meine lieben Jungen, bald kommt die Zeit, dass ich von Euch Abschied nehmen und in die Ewigkeit reisen werde.  [Anmerkung des Sekretärs. Don Bosco unterbrach hier sein Diktat. Ihm traten Tränen in die Augen, aber nicht vor Traurigkeit, sondern vor ganz großer Liebe, die auch aus seinem Blick und seiner Stimme sprach. Nach einigen Augenblicken diktierte er weiter]. Darum wünsche ich mir von ganzem Herzen, Euch alle, meine Mitbrüder und meine lieben jungen Freunde, auf dem Weg zu wissen, auf dem der Herr Euch sehen möchte.
            Dazu schickt Euch auch der Heilige Vater, den ich am Freitag, dem 9. Mai besucht habe, von ganzem Herzen seinen Segen. Am Fest der Helferin der Christen werde ich wieder in Eurer Mitte vor ihrem Gnadenbild sein. Ich wünsche, dass dieses große Fest mit aller Feierlichkeit begangen wird. Don Lazzero und Don Marchisio sollen dafür sorgen, dass auch bei Tisch Freude herrscht. Dieses Fest soll ein Vorspiel
des ewigen Festes sein, das wir einst alle miteinander im Himmel feiern werden.

Rom, 10. Mai 1884
Euer Freund, der Euch in Christus liebt
Priester JOHANNES BOSCO

(MB XVII, 107-114)