Der Traum im Alter von neun Jahren
Die Reihe der „Träume“ Don Boscos beginnt mit einem Traum, den er im Alter von neun Jahren, um 1824, hatte. Er ist einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste, denn er weist auf eine Mission hin, die ihm von der göttlichen Vorsehung anvertraut wurde und die in der Kirche die Form eines besonderen Charismas annahm. Es werden noch viele weitere folgen, von denen die meisten in den Biographischen Memoiren gesammelt und in anderen Veröffentlichungen zum Thema aufgegriffen werden. Wir möchten die wichtigsten davon in mehreren späteren Artikeln vorstellen.
In diesem Alter hatte ich einen Traum, der mir mein ganzes Leben lang tief in Erinnerung blieb. Im Traum schien es mir, als sei ich in der Nähe unseres Hauses auf einem recht weiträumigen Platz, auf dem eine Menge Jungen beisammen waren, welche sich die Zeit vertrieben. Einige lachten, andere spielten, nicht wenige fluchten. Als ich das Fluchen hörte, stürzte ich mich sofort mitten unter sie, um sie mit Faustschlägen und Geschrei zum Schweigen zu bringen. In diesem Moment erschien ein ehrfurchtgebietender Mann im besten Alter und vornehm gekleidet. Ein weißer Mantel bedeckte seine ganze Gestalt; aber sein Gesicht war derart leuchtend, dass ich ihn nicht anschauen konnte. Er rief mich beim Namen, trug mir auf, mich an die Spitze der Jungen zu stellen und sagte:
„Nicht mit Schlägen, sondern mit Milde und Liebe sollst du sie zu Freunden gewinnen. Mach dich also gleich daran, sie über die Hässlichkeit der Sünde und über die Kostbarkeit der Tugend zu belehren.“
Verwirrt und verängstigt erwiderte ich, ich sei ein armes und unwissendes Kind, unfähig, zu diesen Jungen von Religion zu sprechen. In diesem Augenblick hörten diese auf, zu lachen, zu schreien und zu fluchen, und alle versammelten sich um den Sprecher.
Fast ohne zu wissen, was ich sagte, fügte ich hinzu:
„Wer seid Ihr, dass Ihr Unmögliches auftragt?“
„Weil dir derartige Dinge jetzt unmöglich scheinen, musst du sie mit und mit dem Erwerb von Wissen möglich machen.“
„Wo, mit welchen Mitteln werde ich das Wissen erwerben können?“
„Ich werde dir die Lehrerin geben, unter deren Anleitung du klug werden kannst, und ohne die jedes Wissen töricht wird.“
„Aber wer seid Ihr, dass Ihr auf diese Weise sprecht?“
„Ich bin der Sohn derjenigen, die deine Mutter dich dreimal täglich zu grüßen gelehrt hat.“
„Meine Mutter sagt mir, ich soll nicht ohne ihre Erlaubnis mit Unbekannten zusammen sein; sagt mir deshalb Euren Namen.“
„Meinen Namen erfrage von Meiner Mutter.“
In dem Augenblick sah ich neben ihm eine Frau von majestätischem Anblick, in einen Mantel gekleidet, der überall leuchtete, als sei jeder Teil davon ein heller Stern. Sie merkte, dass ich in meinen Fragen und Antworten immer mehr durcheinander kam und bedeutete mir, mich Ihr zu nähern. Voller Güte nahm sie mich bei der Hand und sagte „Schau.“ Ich blickte um mich und bemerkte, dass alle diese Jungen verschwunden waren, und an ihrer Stelle sah ich eine Menge Ziegen, Hunde, Katzen, Bären und verschiedene andere Tiere.
„Hier ist dein Feld, auf dem du arbeiten sollst. Werde demütig, stark, widerstandsfähig; und was du jetzt mit diesen Tieren geschehen siehst, das sollst du für meine Kinder tun.“
Ich schaute nun um mich und siehe da, an Stelle der wilden Tiere erschienen lauter zahme Lämmer, die alle springend und blökend umherliefen, als ob sie diesen Mann und diese Frau feiern wollten.
Immer noch im Traum fing ich an zu weinen und bat ihn, doch in verständlicher Weise sprechen, zu wollen, weil ich nicht wusste, was das bedeuten sollte.
Da legte mir die Frau die Hand auf den Kopf und sagte zu mir:
„Zur rechten Zeit wirst du alles verstehen.“
Als sie das gesagt hatte, weckte mich ein Geräusch auf.
Ich war verwirrt. Mir schien, als täten meine Hände von den ausgeteilten Schlägen noch weh, und mein Gesicht schmerzte von den Ohrfeigen, die ich erhalten hatte; dazu beschäftigten mich diese Persönlichkeit, diese Frau, das Gesagte und das Gehörte dermaßen, dass es mir in dieser Nacht nicht mehr möglich war, Schlaf zu finden.
Am Morgen erzählte ich den Traum sofort, zuerst meinen Brüdern, die darüber lachten, dann meiner Mutter und der Großmutter. Jeder gab dazu seine Deutung. Mein Bruder Giuseppe sagte: „Du wirst ein Hirte von Ziegen, Schafen oder anderen Tieren.“ Meine Mutter: „Wer weiß, ob er nicht Priester wird.“
Antonio meinte ganz trocken: „Vielleicht wirst du Räuberhauptmann.“ Aber meine Großmutter, die zwar genug Ahnung hatte in Glaubensdingen, aber nicht lesen und schreiben konnte, sprach das Schlusswort: „Um Träume muss man sich nicht kümmern.“
Ich war der Ansicht meiner Großmutter, aber trotzdem war es mir nie möglich, diesen Traum aus meinem Gedächtnis zu löschen. Die Dinge, die ich nun im Folgenden darlege, werden einiges davon erklären. Ich habe immer über all das geschwiegen; auch meine Verwandten machten davon keinen Gebrauch. Als ich aber 1858 nach Rom ging, um mit dem Papst über die Salesianische Kongregation zu verhandeln, ließ er sich genauestens alles erzählen, was auch nur den Anschein des Übernatürlichen hätte. Da habe ich zum ersten Male von dem Traum mit neun oder zehn Jahren erzählt. Der Papst trug mir auf, ihn wörtlich und genau aufzuschreiben und ihn zur Ermutigung den Söhnen der Kongregation, welche der Zweck dieser Reise nach Rom war, zu hinterlassen.
(Johannes Bosco, Erinnerungen an das Oratorium des heiligen Franz von Sales; MB I, 123-125)